Nachbericht Wiedervorlage Aufarbeitung:Die erste Hausdurchsuchung kommt bestimmt
Die Kirche in Deutschland steckt trotz aller synodaler Teilerfolge in einer tiefen Krise. Viele tausende Menschen sind in ihrer Kindheit und Jugend von Klerikern sexuell missbraucht worden, eine traumatische Erfahrung, die sie ihr Leben lang begleitet. Eine Unzahl dieser Verbrechen ist ungeahndet und strafrechtlich verjährt, aber die Aufarbeitung umfasst weit mehr als juristische Aspekte jedes einzelnen Falls. Strukturen des Machtmissbrauchs und der Vertuschung aufzudecken und ihre systemischen Ursachen zu beseitigen, gehört zum Beispiel unbedingt hinzu.
Sowohl die staatliche Justiz als auch die kirchliche Justiz haben in früheren Jahrzehnten keine Glanzrolle bei dieser Herkulesaufgabe gespielt. Im Gegenteil haben sie ihren Beitrag zur beklagenswerten Verschleppung der Aufarbeitung geleistet. Diese ernüchternde Erkenntnis blieb von einem angeregten Austausch im Aachener Justizzentrum. Dem Gespräch stellten sich dort die Opferschutzbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen, Generalstaatsanwältin a.D. Elisabeth Auchter-Mainz, und der Münsteraner Kirchenrechtler Prof. Dr. Thomas Schüller.
Eines vorweg: Allem, was Polizei, Staatsanwaltschaft oder Amtsgerichten zur Anzeige gebracht wird, geht der Staat in einem geregelten Verfahren systematisch nach. Strafanzeige erstatten kann jeder, unabhängig von seiner Rolle, seiner Betroffenheit, seiner Beziehung zu Beschuldigten oder Betroffenen, betonte Elisabeth Auchter-Mainz. Auch der Zeitpunkt ist gleich. Selbst Vorgänge, die länger zurückliegen, interessieren für die juristische Aufarbeitung, betonte die Opferschutzbeauftragte. Die Staatsanwaltschaft ist verpflichtet, alles, was ihr über Anzeigen, aber auch über Medienberichte oder andere Quellen zugetragen wird, auf eventuelle Strafwürdigkeit zu prüfen, ggf. zu ermitteln, Zeugen und Beteiligte zu befragen, Räume zu durchsuchen.
Alles zur Anzeige bringen, was Leid auslöst
Dass in vielen Fällen die Ermittlungen eingestellt werden und es nicht zu einem Hauptverfahren vor Gericht kommt, hat einerseits mit der Komplexität und Sensibilität auf dem Gebiet sexueller Übergriffe und Gewalt zu tun. Nicht jeder Verdacht lässt sich mit gerichtsfesten Beweisen erhärten, es gibt eine gewisse Grauzone in der Strafwürdigkeit von sexualisierten Übergriffen. Und trotzdem appellierte Elisabeth Auchter-Mainz, alle Handlungen und Verhaltensweisen von Klerikern und anderen kirchlichen Mitarbeitern zur Anzeige zu bringen, die betroffene Menschen in seelische Bedrängnis und Nöte stürzen. Es braucht hier keine Schere im Kopf und keine Rücksichtnahme.
Andererseits haben in der Vergangenheit einige Staatsanwaltschaften selbst eine Schere im Kopf gehabt und falsche Rücksicht genommen. Zum Beispiel hat es trotz eindeutiger Hinweise auf Vertuschungen und Verdunkelungen von Straftaten bislang keine einzige Hausdurchsuchung in Bischöflichen Ordinariaten gegeben. Der Staat setzte in den letzten Jahren und Jahrzehnten bei seinen Ermittlungen und Verfahren auf freiwillige Herausgabe von Akten. Vielfach hat das auch gut funktioniert, erst recht seitdem es eine kirchliche Selbstverpflichtung dazu gibt. So kann man heute in der Regel davon ausgehen, dass neue Fälle zeitnah und systematisch gemeldet, also ohne Ansehen der beschuldigten Person der juristischen Untersuchung durch den Staat übergeben werden. Überhaupt schraubt Rom stetig an den binnenkirchlichen Vorgaben für Verfolgung und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Raum der Kirche, wie Prof. Dr. Thomas Schüller würdigte.
Und doch bleibt der schale Beigeschmack in der Beobachtung, dass der Staat angesichts der Aufdeckungen durch Missbrauchsgutachten in deutschen Bistümern merkwürdig untätig scheint. Warum wird die Kirche in der Frage ihrer Verantwortung für fortgesetzten sexuellen Missbrauch mancherorts mit Samthandschuhen angefasst?
Schlüssig erklären lässt sich das kaum, wie auch bei der Aachener Veranstaltung zu spüren war. Es können, so eine Interpretation, in besonders katholisch geprägten Regionen Kumpanei und Komplizenschaft zwischen den Akteuren vorliegen. Für die Betroffenen ist die offizielle Einstellung von Verfahren ähnlich leidvoll wie die Ignoranz, die sie im kirchlichen Umfeld erleben. Immer wieder kommt dies zur Sprache: Es wird nicht uns geglaubt, sondern dem Täter. Es kann zugleich auch mit einem überhöhten Respekt vor der besonderen Stellung der Religionsfreiheit im Grundgesetz zusammenhängen, die Kirche unantastbar erscheinen lässt.
Das Dunkelfeld der Übergriffe weiter aufhellen
Wie auch immer: Sowohl die Generalstaatsanwältin a.D. als auch der Kirchenrechtsprofessor gehen davon aus, dass diese Zeiten zu Ende gehen und dass man in nächster Zeit die erste Hausdurchsuchung erleben wird. Das stärkt auch die Nachrangigkeit der kirchlichen Aufarbeitung, wie sie im Miteinander der beiden Rechtssysteme von Staat und Kirche vorgesehen ist. Im Kern bestraft der Staat bei einer gerichtlichen Verurteilung die Taten, die Glaubenskongregation in Rom kümmert sich um disziplinarische Konsequenzen bis hin zur Entlassung aus dem Klerikerstand. Prof. Dr. Thomas Schüller würdigt das beobachtbare Engagement, aber die Kirche könne hier gleichwohl noch zulegen, was die Geschwindigkeit und die Tragweite ihrer Aufarbeitung betrifft. Insbesondere bei deutschen Bischöfen drücke Rom zu stark die Augen zu, kritisierte der Kirchenrechtler.
Die Herausforderung ist gigantisch, nicht nur mit Blick auf die Weltkirche. In manchen Regionen gibt es noch gar kein Bewusstsein für die Problematik, greifen Strukturen des Machtmissbrauchs und seiner Vertuschung ungebremst. Thomas Schüller treibt gleichzeitig auch die Breite und Tiefe des Dunkelfelds in der deutschen Kirche um. Er vertritt seit 30 Jahren Opfer und sagt: Es sind viel mehr Menschen betroffen, als gemeinhin bekannt, zum Beispiel Alleinstehende im pastoralen Dienst. Und dann ist da noch das Thema eines mangelhaften Verhältnisses von Nähe und Distanz. Betroffene eines übergriffigen Verhaltens von Vorgesetzten und Kollegen erlebten großes Leid und litten außerdem an den selben verdrängenden, leugnenden und vertuschenden Mechanismen in der Kirche wie andere Betroffene sexualisierter Gewalt. Hier gilt es, die Debatte nachzuschärfen.
Info
Die von Dr. Martin Pott moderierte Veranstaltung mit Generalstaatsanwältin a.D. Elisabeth Auchter-Mainz und Kirchenrechtler Prof. Dr. Thomas Schüller gehörte zu einer Veranstaltungsreihe, die sich mit den systemischen Ursachen von sexualisierter Gewalt im Raum der Kirche beschäftigt.
Mehr Informationen und nächste Termine unter www.wiedervorlage-aufarbeitung.de . Als Veranstalter zeichnen verantwortlich: BDKJ Diözesanverband Aachen, Bischöfliche Akademie des Bistums Aachen, Diözesanrat der Katholik*innen im Bistum Aachen und kfd Diözesanverband Aachen.